Undamenhaft
„Junge Dame, es wird Zeit, ein für alle Mal mit diesen Kindereien aufzuhören, das schickt sich nicht! Du bist siebzehn Jahre alt und damit kein Kind mehr! Nein, ein solches Verhalten schickt sich einfach nicht! Ich weiß beim besten Willen nicht mehr, was ich mit dir machen soll. Du wirst so lange hier drinnen bleiben, bis du vernünftig geworden bist!“
Mit diesen Worten schlug Oberin Margret die Tür des Besinnungsraums hinter Riki zu. Riki lauschte dem wohlbekannten Drehen des Schlüssels im Schloss und setzte seufzend das Nähkörbchen auf dem wackeligen Holztisch ab.
„Bis ich vernünftig geworden bin? Also mindestens mal bis in alle Ewigkeit“, murmelte sie und strich sich verärgert eine widerspenstige braune Locke aus der Stirn. Sie wünschte sich, diese Worte nicht nur zu murmeln, sondern sie der Oberin selbstbewusst entgegenzuschleudern, woraufhin diese schockiert die Tür öffnen und Riki sprachlos und resigniert für immer in Ruhe lassen würde.
Utopisch. Sowohl, dass Riki offen widersprach, als auch, dass man sie in Ruhe ließe.
Wäre sie ein Junge, hätte sich niemand daran gestört, dass sie auf einen Baum geklettert war. Aber für eine Dame höheren Standes schickte sich das nun überhaupt nicht. Diese hatte unter dem Baum zu warten, bis ein edler Prinz des Weges kam, um ihr den gewünschten Apfel zu pflücken. Kam er nicht, musste sie sich eben so lange in sehnsüchtigen Seufzern verzehren, bis sie verhungert war!
Gut, in Rikis Fall waren zwar keine Äpfel auf dem Baum und sie war völlig ohne Grund hinaufgeklettert, aber warum musste immer alles einen Grund haben? Wieso, bitteschön, durfte man sich nicht einfach nur vergnügen? Man schrieb das Jahr 1898, zwei Jahre vor der Jahrhundertwende und es wurde bestraft, wenn man zu seiner bloßen Erbauung einen Baum bestieg. England rühmte sich bei jeder Gelegenheit seiner Fortschrittlichkeit, aber Damen in Bäumen, das verkraftete die Fortschrittlichkeit dann auch wieder nicht!
Oh ja, sie hatte sich beim Klettern ein klaffendes Loch von der erschröcklichen Größe eines viertel Fingernagels in ihre blütenweiße, gestärkte Schürze gerissen. Diese albernen Schürzen, auf die sie hier im Pensionat so viel Wert legten! Das war unverzeihlich, irreparabel und wahrlich einer Bestrafung würdig.
Riki schnaubte verächtlich.
Mit größerem Bedauern hingegen strich sie über einen unter der Schürze verborgenen Riss in ihrem geliebten Kleid aus braunem Kattun. Von ihrer gesamten Garderobe war es bei Weitem am bequemsten und obendrein betrachteten ihre Mitschülerinnen es ob seiner praktischen Schlichtheit immer mit einem gewissen Naserümpfen. Weswegen sie es erst recht mochte.
Umgeben von Gleichaltrigen, deren einzige Themen Aussehen, Putz und ihre Aussicht, einen Mann zu ergattern waren, fühlte Riki sich so fehl am Platz wie ein Schweinemetzger auf einem arabischen Basar. Sie begann sich sogar schon zu fragen, ob es normal war, sich seine eigenen Gedanken zu machen. Vor allem, wenn sie über die obigen Themen hinausgingen. Obwohl sie sich wirklich gern ihre eigenen Gedanken machte. Wäre da nicht noch ihre Freundin Myra gewesen, die ebenso wie Riki lieber erst einmal sehen wollte, was das Leben und die Welt da draußen zu bieten hatten, dann hätten Rikis Selbstzweifel unausweichlich irgendwann überhand genommen.
Jeder Tag, den sie länger im Pensionat verbrachten, war ein verlorener Tag. Und vor allem brachte er sie ihrer Heirat mit den bereits für sie ausgesuchten Verlobten näher.
Ein Ereignis, das es um jeden Preis zu verhindern galt.
Myras Eltern hatten ihre Tochter schon seit Längerem mit einem distinguierten Industriellen Anfang dreißig verlobt und bestanden darauf, dass Myra ihn heiratete, sobald sie die Schule beendet hatte. Sprich in exakt drei Monaten.
Aber dann würden sie nicht mehr hier sein. Schon lange nicht mehr. Denn es hatte sich vor Kurzem endlich die seit einer Ewigkeit ersehnte Gelegenheit geboten, wie sie und Myra von hier verschwinden konnten. Keinen Moment zu früh.
Für Riki gab es zwar noch keinen konkreten Hochzeitstermin, doch ihr Onkel Theodore, der seit dem Unfalltod ihrer Eltern ihr Vormund war, hatte bereits einen geeigneten Bewerber gefunden. „Bereits“ war gut, denn der arme Onkel war schon seit zwei Jahren in größter Sorge, wie er Rikis Zukunft absichern konnte. In seinen Augen waren Frauen unselbstständige, hilflose Geschöpfe, die man möglichst schnell verheiraten musste, um ihr Überleben zu garantieren. Leider dachte nicht nur er so, sondern die gesamte viktorianische Gesellschaft. Eine Frau der gehobenen Schicht, aus der Riki stammte, bereitete ihrem Mann sogar Schande, ginge sie arbeiten. Immerhin war es Frauen seit einigen Jahren gestattet, das Eigentum behalten zu können, welches sie mit in die Ehe brachten. Es ging nicht mehr automatisch auf den Ehemann über. Dennoch blieben sie von ihm abhängig, da es ihnen weder erlaubt war, ein eigenes Bankkonto zu haben, noch Verträge zu unterschreiben. Ein Wunder, dass sie überhaupt allein die Straße überqueren durften!
Riki knirschte mit den Zähnen. Was, ganz nebenbei, selbstredend fürchterlich undamenhaft war.
Trotz seiner, nun ja, zeitgemäßen Ansichten mochte Riki ihren Onkel. Er war ein ehrlicher, hart arbeitender Geschäftsmann, der immer dort half, wo Not am Mann war. Auch für Riki wollte er nur das Beste. Leider bestand das in seinen Augen nun einmal in einer aussichtsreichen Heirat – und zwar ausschließlich darin.
Und da wurde es nach Ansicht von Theodore Speeter für Riki mit ihren siebzehn Jahren gefährlich eng. Doch da erschien lichtumstrahlt Adalbert Minder, Rikis rettender Ritter. Beziehungsweise der rettende Ritter ihres Onkels, da sie nicht das Bedürfnis verspürte, gerettet zu werden.
Adalbert war der fleißige und ehrgeizige Sohn eines Geschäftspartners, der mit seinen zweiundzwanzig Jahren bereits eigene Verantwortung im Geschäft seines Vaters trug. Der ideale Kandidat.
Er war wohlerzogen, ruhig, zuvorkommend – und jedes Mal wenn Riki ihn sah, langweilte er sie zu Tode. Sie hatte nichts gegen ihn. Nur war er mit seinem ausschließlichen Interesse für Bilanzen und seiner fantasielosen, gesetzten Art das genaue Gegenteil der lebenslustigen, energiegeladenen und altersbedingt grenzenlos romantischen Riki.
Adalbert wiederum mochte sie sehr und Riki befürchtete bei jedem Besuch, dass er um ihre Hand anhalten würde. Bis jetzt hatte er sich, Gott sei Dank, noch nicht gewagt, allerdings war es nur eine Frage der Zeit. Aber was sollte sie bloß mit einem Bräutigam, der jedes Mal, wenn sie ihn ansah, scheu zu Boden blickte? Das war doch eigentlich die Rolle, die die Gesellschaft ihr zugedacht hatte!
Riki war sich nicht im Mindesten bewusst, welchen Eindruck der kecke Blick ihrer blauen Augen auf den jungen Mann machte. Adalbert hätte stundenlang Rikis schmales, ansprechendes Gesicht mit den frechen Sommersprossen betrachten können, doch das erschien ihm unangebracht. Abgesehen davon schüchterte sie ihn ein. Aber das musste ja niemand wissen.
Zu Rikis Verdruss gab es keine „vernünftigen“ Gründe, ihn abzuweisen. Er war eine gute Partie, jung, nett, fleißig und mit hervorragenden beruflichen Aussichten. Sie hätten in einem schönen Haus im Wohlstand gelebt und dieser farblose Grottenolm würde sie sicherlich gut behandeln. Obendrein wäre die Geschäftsbeziehung zwischen ihrem Onkel und Adalberts Vater gesichert. Wobei man der Gerechtigkeit halber bemerken musste, dass es Onkel Theodore darauf nicht ankam.
Das alles interessierte Riki nicht. Sie wollte frei sein, etwas von der Welt sehen und eigene Erfahrungen sammeln. Warum sollte dies nur Männern vorbehalten sein! Außerdem sah sie keinen Sinn darin, ihr Lebensziel darin zu suchen, das lächelnde Beiwerk irgendeines Mannes zu sein, den sie obendrein nicht einmal liebte.
Riki schüttelte ihre unangenehmen Überlegungen ab. In der gehobenen viktorianischen Gesellschaft waren ihre Chancen, Einfluss auf ihre Zukunft zu nehmen, vergleichbar mit denen eines Nichtschwimmers, unbeschadet den Ärmelkanal zu durchkraulen. Und das trieb sowohl Riki als auch Myra gleichermaßen in den Wahnsinn. Daher hatten sie angefangen, die ausgefeiltesten Fluchtpläne zu schmieden. Bloß enthielt bislang keiner dieser Pläne eine wirklichkeitsnahe Möglichkeit, wie sie nach ihrer Flucht ihren Lebensunterhalt sichern konnten.
Bis vor Kurzem.
Eines Abends schlichen sich die Freundinnen heimlich aus dem Pensionat, um die Vorstellung eines Wanderzirkus anzusehen. Der prickelnde Reiz dieses Abenteuers, die glitzernde, märchenhafte Welt der Gaukler, die fremdartigen Gerüche und Klänge und die atemberaubende Darbietung, hatten einen tiefen, unauslöschlichen Eindruck in ihren hoffnungslosen Seelen hinterlassen.
So und nicht anders wollten sie leben! Und plötzlich wussten sie genau, was sie tun wollten. Sie würden sich als Knaben verkleiden, aus dem Pensionat und ihrem bisherigen Leben ausbrechen und mit einem Zirkus mitziehen.
Seit diesem Entschluss eigneten sich beide ebenso heimlich wie besessen Fertigkeiten an, die ihnen dafür nützlich erschienen.
Riki durchquerte das kleine Zimmer bereits recht entschlossen auf den Händen, was schon erstaunlich gut klappte. Zumindest wenn man davon absah, dass sie wegen des langen Rockes, der über ihren Kopf gefallen war, gar nichts sehen konnte.
Riki musste bei dem Gedanken, was für ein Bild sie abgab, in sich hineinschmunzeln. Ein kopfstehendes Kleiderbündel, aus dem zwei spitzenbeunterhoste Beine herausragten, welches sich ziellos durch ein schmuckloses Zimmerchen bewegte. Reichlich undamenhaft. Obendrein gehörte auf den Händen zu laufen selbstredend nicht zu den Fertigkeiten, die eine gute Ehefrau benötigte!
Umso besser. Riki war durchaus bewusst, wie kindisch es war, dass sie alles mit grimmiger Befriedigung erfüllte, was den Lernzielen des Pensionats möglichst entgegengesetzt stand, aber sie genoss es trotzdem.
Riki hakte, immer noch auf den Händen stehend, einen Fuß in den Henkel des Nähkorbs, hob ihn an und stellte ihn vorsichtig ein Stück weiter auf dem Tisch wieder ab.
Gar nicht übel, dachte sie amüsiert. Wenn ich den Riss im Kleid jetzt noch mit den Füßen zusammennähen könnte, dann hätte ich meine Zirkusnummer.
Prustend und reichlich undamenhaft ließ sie sich auf den Boden plumpsen, richtete sich jedoch gleich wieder auf.
Riccarda Speeter, rief sie sich zur Ordnung, Schluss mit den Spielchen. Endlich ist es so weit: Seit gestern gastiert ein Zirkus in der Stadt. Das bedeutet, Myra und ich werden Ende dieser Woche mit ebendiesem Zirkus verschwunden sein und ein neues Leben beginnen!