ACHTUNG! Leseprobe enthält Spoiler zu Band !
Gähnende Leere
Hektisch biss Aurica von ihrem Brötchen ab und schlüpfte kauend in ihren Pulli. Niemals hätte sie gedacht, nach dem mehr als ereignisreichen gestrigen Abend schlafen zu können. Doch sie konnte, und sie würde es immer noch, wenn Daniel sie nicht geweckt hätte. Ihr Blick wanderte zu dem attraktiven, wasserstoffblonden Vampir, der mit locker verschränkten Armen an ihrer Küchenzeile lehnte und sie halb liebevoll, halb spöttisch musterte.
Der hatte gut Grinsen über ihre morgendliche Hektik! Nicht jeder hatte das Glück, nach dem Aufstehen immer top gestylt auszusehen und sich zu allem Überfluss nicht auch noch mit zeitraubenden Banalitäten wie Frühstück herumschlagen zu müssen. Trotzdem fragte sich Aurica ernsthaft, wie er nach den gestrigen Ereignissen so gute Laune haben konnte.
Raoul hatte es zwar nicht übers Herz gebracht, seine eigenen Pläne auf Daniels Kosten zu verwirklichen – jedoch nur um Haaresbreite. Das Thema war längst nicht vom Tisch, im Gegenteil, die Sache fing jetzt erst so richtig an: Raoul hatte Mathilda, die sich seit über einhundert Jahren in einer Art Zauberschlaf befand, in das Haus gebracht, das er gemeinsam mit Daniel bewohnte. Was im Klartext bedeutete, dass weder Daniel noch Aurica in Zukunft dort sicher waren. So sehr sich Aurica auch wünschte, dass das Gute in Raoul siegen mochte: Man blieb besser realistisch. Raoul war es jederzeit zuzutrauen, dass er seine Skrupel über Bord warf, und Mathilda doch noch erweckte. Wobei das Ansinnen selbst nicht böse, sondern sogar edel war. Das Perfide daran war jedoch, dass der Erweckungszauber als Zutat Daniels Lebensglück forderte, was diesen zu einem zutiefst trostlosen und düsteren Dasein verdammen würde. Das wusste auch Raoul, weswegen er gestern in letzter Sekunde einen Rückzieher gemacht hatte. Doch nur weil er einmal eine Anwandlung von Moral hatte, hieß das nicht automatisch, dass es so bleiben würde. Und der einfachste Weg an Daniels Glück zu kommen, führte über sie selbst. Denn Daniel liebte sie – und Liebe war das größte Glück von allen.
Doch trotz dieser Brisanz harrte ihrer heute Morgen noch ein viel drängenderes Problem: In einem der leerstehenden Büros im Schloss der Schatten wartete Terra, ein etwa vierzehnjähriges Mädchen, dessen Hexen-Mutter Raoul gestern getötet hatte. Allerdings ahnte das Kind noch nichts davon. Aurica wusste weder, wie sie dem Mädchen das sagen, noch was sie nun mit ihr machen sollten. Der Fall einer ermordeten Hexe war nichts, womit sich die Polizei beschäftigen durfte. Vertuschen ging jedoch auch nicht, denn was sollte nun mit dem Kind geschehen?
Zu guter Letzt lag im Keller des Schlosses der Schatten die Leiche der getöteten Hexe. Außer Raoul hatte Wort gehalten und sie weggeschafft. Weggeschafft. Aurica lief ein Schauer über den Rücken. War sie wirklich schon so abgebrüht? Nein, offenbar nicht. Denn als die Bilder der sterbenden Frau vor ihrem inneren Auge auftauchten, fingen ihre Knie unkontrolliert an zu zittern.
Daniel war mit wenigen Schritten bei ihr und schloss sie in seine Arme. So sehr Aurica die Gabe ihres Freundes, Gefühle zu erspüren, manchmal auf die Nerven ging, gab es Gelegenheiten, da war sie wirklich von Vorteil.
„He, das wird wieder. Ich will nicht behaupten, dass du dich an den Anblick gewöhnst, aber die Erinnerung verblasst irgendwann. Außerdem wird es mit der Zeit besser“, versuchte Daniel sie zu beruhigen.
„Eigentlich hoffe ich, dass ich so etwas nie wieder sehen muss!“, nuschelte Aurica an seine Brust geschmiegt, während er ihr über den Rücken strich.
„Das würde ich dir gern versprechen, aber dafür hast du wohl den falschen Freund, ich die falsche Verwandtschaft und selbige die falschen Feinde.“
Aurica runzelte die Stirn und sah zu ihm hoch. „Wenn ich den Gedanken logisch fortführe, brauche ich dich also bloß in den Wind zu schießen, und schon bin ich alle Sorgen los?“
Daniel rieb sein Kinn, als müsse er darüber nachdenken. „So ist es“, erklärte er feierlich. Dabei blitzte jedoch der Schalk in seinen unverschämt blauen Augen auf, in denen Aurica jedes Mal von Neuem zu versinken drohte. „Aber dafür bin ich viel zu gut im Bett. Es ist es nicht wert, das dafü...“
„DANIEL!“ Empört stieß Aurica ihn von sich, wenngleich sie ein Schmunzeln nicht ganz unterdrücken konnte. Sie rückte ihre Brille zurecht. „Wie pietätlos! Außerdem, wie kann sich jemand nur so maßlos ...“
„Unterschätzen? Bescheiden sein? Sein Licht unter den Scheffel stellen?“, bot er an und fing sie wieder ein.
Aurica sträubte sich, doch als seine Lippen die ihren berührten, erlahmte ihr Widerstand – wobei dieser wankelmütige Gesinnungslump den Namen Widerstand eigentlich kaum verdiente. Warum konnte dieses Prachtexemplar von Vampir nur so unfassbar gut küssen?! Vermutlich schwappte Auricas Begierde in genau diesem Moment ungefiltert zu Daniel hinüber und bestätigte sein überbordendes Ego auch noch! Zum Glück war Aurica ein außerordentlich pflichtbewusster Mensch. Nur so konnte die Tatsache, dass sie spät dran waren, sich in ihr Bewusstsein drängen und diesen Kuss vorzeitig beenden. Bevor Daniel die Gelegenheit bekam, ihr zu beweisen, dass seine maßlose Selbstüberschätzung in Wirklichkeit auf belegbaren Fakten beruhte.
Mit einem Seufzen drückte sie sich von ihm weg. „Wir müssen los, wir kommen zu spät!“ Dabei versuchte sie, so viel Nachdruck wie möglich in ihre Stimme zu legen. Daniel ließ tatsächlich von ihr ab und verkniff sich sogar jeden Kommentar. Allerdings ließ sein überzogen selbstzufriedener Gesichtsausdruck, den er demonstrativ zur Schau trug, keinen Zweifel darüber offen, was er über sich, Aurica und die Halbwertszeit ihres Widerstands dachte.
Kurze Zeit später saßen sie in Daniels altem Kadett und rauschten die B42 am Rhein entlang.
„Was machen wir jetzt nur mit dem Mädchen?“, überlegte Aurica laut, dann warf sie Daniel einen fragenden Blick zu. „Glaubst du, Terra ist auch eine Hexe?“
„Nein. Zumindest hat es sich noch nicht in ihrem Blut manifestiert. Ich konnte sie gestern problemlos beeinflussen.“
Das war von Vorteil. Wenn ein Vampir jemanden biss, so konnte er über die dabei entstehende Blutverbindung dessen Gedanken manipulieren. Jedoch funktionierte das nur bei Menschen, nicht bei Hexen. Allerdings hatte Daniel das Mädchen gestern nur in einen Hypnoseschlaf geschickt, um sich in Ruhe überlegen zu können, wie er ihr Gedächtnis verändern wollte.
„Dann könntest du ihr doch einfach die Erinnerung an das nehmen, was gestern Nacht passiert ist?“, murmelte Aurica halbherzig, wohlwissend, dass sich das Problem „Terra“ dadurch nicht löste.
Daniel streifte sie mit einem spöttischen Seitenblick. „Ich könnte ihr nicht nur die Erinnerung nehmen, ich könnte sie sogar durch jede beliebige ersetzen. Allerdings sollte es keine sein, die eine Großfahndung nach ihrer Mutter auslöst, weil sie sie vermisst. Denn die bleibt tot.“
Aurica schlug die Hände vors Gesicht. „Ich will ihr diese Nachricht nicht überbringen! Und ihrer Familie auch nicht, falls sie eine hat.“
„Sollte sie eine haben, können wir Terra nicht nach Hause schicken, ohne uns die anderen vampirjagenden Hexen auf den Hals zu hetzen.“ Daniel presste die Lippen zu einem festen Strich zusammen. Sein Ausdruck gefiel Aurica überhaupt nicht.
„Ach, dann willst du sie also für immer in das Büro sperren? Oder besser: direkt adoptieren?“
„Weder noch“, entgegnete er mit unbewegter Miene. Sein Finger jedoch fuhr gedankenverloren das Lenkrad entlang.
Aurica lief es eiskalt den Rücken hinunter und sie rückte instinktiv ein Stück von dem Vampir weg. „Du kannst sie nicht einfach töten!“
„Warum nicht? Das wäre das Einfachste.“
Weder Daniels Gesichtsausdruck noch sein Tonfall ließen erkennen, ob er seine Worte ernst meinte.
Aurica verschlug es die Sprache. Sie konnte ihn nur mit offenem Mund anstarren. Schließlich hoben sich Daniels Schultern in einem lautlosen Seufzer. „Jetzt sei doch nicht so leichtgläubig. Ich tue ihr schon nichts! Du solltest mich eigentlich besser kennen.“ Der letzte Teil klang fast ein wenig pikiert.
„Wenn das eben ein Scherz sein sollte, dann war das nicht lustig!“
Der Vampir seufzte erneut. „Und wenn nicht, dann läge es ohnehin an Raoul, den Schlamassel gefälligst aufzuräumen, den er uns eingebrockt hat“, murmelte er. Ein gänzlich ungeeignetes Argument, um Aurica davon zu überzeugen, dass dem Mädchen nichts geschah.
„Sie zu töten würde euch die anderen Hexen auch nicht vom Leib halten! Ich bin mir ziemlich sicher, sie wüssten genau, wer dafür verantwortlich ist“, argumentierte sie daher weiter.
„Wenn es andere gibt, dann wissen sie Bescheid. Ja, ich hab kapiert, was du mir sagen willst und nein, ich hatte nicht ernsthaft vor, die Kleine zu töten.“ Auch wenn ihm diese Option kurz durch den Kopf gegangen war, aber das musste sie ja nicht wissen.
„Hm. Und was dann?“, erkundigte sich Aurica.
„Vielleicht lösche ich ihr Gedächtnis, verankere eine diffuse Erinnerung an einen Unfall darin und setze sie in der Nähe eines Krankenhauses ab.“
„Sie ist fast noch ein Kind! Du kannst sie nicht einfach sich selbst überlassen!“
Daniel lag eine eindeutige Bemerkung auf der Zunge, die er jedoch wohlweislich hinunterschluckte. Außerdem waren sie bald da und er hoffte, weiteren Diskussionen aus dem Weg gehen zu können.
Während er den Wagen in den Waldweg lenkte, der zum Schloss der Schatten führte, fragte er sich, wann die Stadt endlich mit der Befestigung der Straße zu beginnen gedachte. Da das Museum bereits in einem Monat seine Pforten öffnen wollte, wäre es dringend notwendig, bald etwas vorweisen zu können, was auch der Laie problemlos als Zufahrt erkannte.
Allerdings hatte er im Moment größere Probleme. Noch immer wusste er nicht genau, was er mit Terra tun sollte. Auricas wütend-ängstliche Stimmung schlug ihm auf die Laune, dementsprechend eilig stieg er aus, kaum, dass er geparkt hatte. In der Hoffnung, Aurica könne seinem Tempo nicht standhalten, eilte er auf das Gebäude zu, in dem er Terra in einem Hypnoseschlaf zurückgelassen hatte. Auf die Vampirgeschwindigkeit verzichtete er. Damit hätte er Aurica zwar kurzfristig abgehängt, aber das würde ihm todsicher Ärger einbringen. Außerdem hoffte er, dass ihm bei normaler Geschwindigkeit unterwegs noch eine Lösung einfiel.
Der Plan ging nicht auf. Allerdings musste er das auch nicht, denn kaum stand Daniel vor dem Zimmer, wurde ihm klar, dass hier etwas faul war. Das Büro war abgeschlossen. Das war insofern bemerkenswert, da kein Schlüssel zu dem Raum existierte.
Daniel rammte seine Schulter gegen die Tür. Das Holz splitterte, das Türblatt knallte gegen die Wand und von dort wieder gegen Daniel, doch er bemerkte es kaum. Der Raum war leer. Terra war verschwunden.
Raoul!, war sein erster Gedanke, doch dann stieg ihm der fremde Geruch in die Nase. Ein Hauch davon war ihm bereits auf dem Weg aufgefallen. Allerdings war die Spur draußen nur noch schwach gewesen und in seiner Eile hatte er nicht weiter darauf geachtet.
Inzwischen hatte Aurica zu ihm aufgeschlossen und starrte perplex in das leere Zimmer. Ihr Blick wanderte zum Türschloss und sie kniff die Augen zusammen. „Hier hat jemand Magie gewirkt.“
„Ja.“ Daniel nickte langsam. „Es stinkt nach Hexe.“
…