ACHTUNG! Leseprobe enthält Spoiler zu Vorgängerbänden !
Wiedersehen
Jérémie? Was ...
Raoul starrte Mathilda entgeistert an, doch bevor es ihm gelang, einen klaren Gedanken zu fassen, bemerkte er, wie sich zunächst Enttäuschung auf dem Gesicht seiner Frau ausbreitete, ehe sich ihre Miene wieder verschloss.
Sie senkte den Blick und sackte auf dem Wohnzimmersofa in sich zusammen. »Bitte verzeihen Sie, für einen Moment dachte ich ... Ich habe Sie für jemand anderen gehalten.«
Sie?
...
Für jemand anderen?
In Raouls Geist stolperten sich überstürzende Gedanken wild übereinander, nur um im nächsten Moment von einer Leere biblischen Ausmaßes hinweggefegt zu werden. Hilfesuchend tauschte er einen Blick mit dem Mathilda gegenübersitzenden Daniel, allerdings wirkte der ebenso verständnislos wie er selbst.
Ohne Vorwarnung explodierte eine weitere Horde marodierender Gedanken in seinem Geist, zerriss die Leere und gebar aus ihren Überresten Ableger, deren Sinnlosigkeit Raoul fast wahnsinnig machte.
Wahre gefälligst deine Contenance, sonst beunruhigst du am Ende noch deine Frau!, wies er sich zurecht.
Die dich offenbar nicht einmal erkennt!, stichelte ein höhnisches Stimmchen, das er hastig ausblendete.
Der Vampir schloss die Augen, atmete tief durch und zwang das Durcheinander in seinem Kopf zur Ruhe. Was hatte er eigentlich erwartet? Mathilda war verwirrt. Kein Wunder, schließlich war sie gerade erst aus einem über hundert Jahre dauernden Zauberschlaf erwacht! Da konnte niemand erwarten, dass sie sich sofort zurechtfand.
Raoul ignorierte die Kälte, die sich in seinem Inneren ausbreitete, und bewegte sich vorsichtig ein paar Schritte auf seine Frau zu. Scheu hob sie den Blick, schien aber zumindest keine Angst vor ihm zu haben. Daher näherte er sich weiter und ging langsam vor ihr in die Hocke, jedoch ohne sie zu berühren – auch wenn alles in ihm danach schrie, sie endlich in seine Arme zu ziehen. Er kämpfte den Impuls nieder, ihr wunderschönes Gesicht mit seinen Händen zu umfassen und seine Finger durch die hüftlange Flut ihrer goldenen Haare gleiten zu lassen. Keinesfalls durfte er jetzt etwas überstürzen. Obwohl es ihn fast umbrachte, nicht mit seinem Mund über ihre unwiderstehlichen Lippen zu streichen, um Erinnerung für Erinnerung aus ihrem Gedächtnis hervorzuküssen und ihr zu zeigen, wie sehr sie ihm gefehlt hatte. Aber er wollte sie nicht erschrecken, daher sagte er nur behutsam: »Mathilda, ich bin es, Raoul.«
Nach all der Zeit endlich wieder ihr Herz schlagen zu hören! Ihren betörenden Duft zu riechen, überhaupt, sie so warm und lebendig vor sich zu sehen, überwältigte ihn. Das hier war ein Wunder. Wie lange hatte er sich nach diesem Augenblick gesehnt! Wie oft gefürchtet, ihn niemals erleben zu dürfen.
Mathildas blaue Augen, die Daniels so ähnlich waren, musterten ihn intensiv, ertasteten sein Gesicht wie die Finger eines Blinden, der die Person dahinter mit seinen verbliebenen Sinnen erspüren wollte. Eingehend studierte sie seine Züge, während es in ihrer Miene arbeitete. Schließlich runzelte sie die Stirn und schüttelte bedauernd den Kopf. »Es tut mir leid, aber ich kenne keinen Raoul.«
Ein Pflock direkt ins Herz hätte keine ernüchterndere Wirkung auf ihn haben können. Und keine schmerzhaftere.
Nein.
Sein Innerstes gefror, und dennoch brannten sich ihre Worte durch sein Herz wie glühender Stahl. Trotzdem zwang Raoul sich, rational zu bleiben. Es war alles in Ordnung, das hier war vollkommen normal. Mathilda brauchte einfach Zeit, sich in Ruhe an alles zu erinnern. Sie war doch gerade erst aufgewacht! Er durfte sie nicht drängen, musste sich bloß noch ein wenig gedulden.
Mit einem stummen Seufzen auf den Lippen wollte er sich gerade erheben, als Mathilda ihre Hand auf seinen Arm legte und ihn besorgt musterte. Obwohl das Nichterkennen in ihrem Blick schmerzte wie eine offen ausgesprochene Zurückweisung, verdrängte ihre Berührung die Kälte in seinem Inneren und zog ihn an wie ein flackerndes Kaminfeuer einen durchgefrorenen Wanderer. Als hätte sie direkt nach seinem Herzen gegriffen.
»Es tut mir wirklich sehr leid. Ich sollte Sie kennen, nicht wahr?« Ihr Blick intensivierte sich und wanderte erneut prüfend über Raouls Gesicht. Hoffnung keimte in ihm auf. Womöglich würde sie ihn jetzt erkennen? Daher hielt er still, auch wenn ihn seine Ungeduld fast um den Verstand brachte.
Nachdem Mathilda ihn eindrücklich gemustert hatte, bezog sie auch Daniel in ihre Betrachtung mit ein, kniff schließlich die Augen zusammen und legte nachdenklich den Kopf schief. »Sie sehen meinem Sohn bemerkenswert ähnlich. Sind Sie eventuell ein Verwandter? Möglicherweise ein Cousin ersten Grades?«
Raoul senkte blitzschnell die Lider und drehte den Kopf zu Daniel, damit sie das aufflackernde Rot in seinen Augen und die sich ins Vampirische verändernden Züge nicht sehen konnte. Mit diesem Anblick wollte er sie wirklich nicht konfrontieren, aber wegen der starken Emotionen konnte er die Verwandlung zum Vampir nicht mehr kontrollieren. Während er gegen die Transformation ankämpfte, suchte er Daniels Blick. Wenn er doch bloß wüsste, was sein Sohn Mathilda bereits erzählt hatte! Aber dieser schüttelte nur unmerklich den Kopf.
Wahrscheinlich hatte er recht. So sehr Raoul darauf brannte, es war noch zu früh, seine Frau mit der ganzen Wahrheit zu konfrontieren. Im Moment hatte sie wahrhaftig mehr als genug zu verarbeiten. Zumal die Tatsache, dass er kaum älter als sein eigener Sohn aussah, hochgradig verwirrend und erklärungsbedürftig war – selbst wenn sie Raoul als ihren Mann erkannt hätte.
Er drängte den Vampir zurück, wandte sich Mathilda zu und lächelte sie an, ungeachtet der Enttäuschung, die ihn zerfraß, und der Kälte, die sich erneut in seinem Inneren ausbreitete.
»Nein, kein Cousin. Es ist nicht wichtig, wer ich bin. Mach dir keine Sorgen, die Erinnerung wird schon wiederkommen. Es ist alles nur etwas viel für dich im Moment.« Er legte seine Hand auf ihre und drückte sie beruhigend. »Da wir uns jedoch kennen, bitte ich dich lediglich, das störende ›Sie‹ wegzulassen. Mein Name ist Raoul.«
Das vertrauensvolle Lächeln, das sie ihm daraufhin schenkte, versetzte seinem Herzen einen schmerzlichen Stich.
»Das werde ich sehr gern tun. Und ich bitte nochmals um Verzeihung, es ist tatsächlich alles ein wenig viel für mich.«
Erneut drückte er ihre Hand. »Du brauchst dich nicht zu entschuldigen, es ist alles in Ordnung.« Nur widerwillig löste er sich von ihr und stand auf.
Einerlei wie sehr er sich einzureden versuchte, dass es für Mathildas Amnesie einen guten Grund gab, es schmerzte höllisch, dass sie sich nicht mehr an ihn erinnerte. Obwohl er es ihr kaum verdenken konnte. So wie er sich ihr gegenüber damals verhalten hatte ... An ihrer Stelle hätte er sich auch schnellstmöglich vergessen.
Doch neben der abgrundtiefen Enttäuschung spürte er plötzlich etwas, das ihm, zumindest in Bezug auf Mathilda, vollkommen fremd war: den unwiderstehlichen Drang, ihr seinen Willen aufzuzwingen. Er wollte ihr seine Zähne in den Hals schlagen, ihr Blut trinken und ihrem Geist die verschütteten Erinnerungen nicht nur entreißen, sondern sie durch solche ersetzen, die ihn selbst als perfekten Ehemann erscheinen ließen. Und dann wollte er sich Mathilda mit Haut und Haaren gefügig machen. Raoul erschrak vor sich selbst. Er würde niemals ...
Aurica ...
Er schüttelte den Gedanken schnell wieder ab. Dafür, sich Aurica gefügig zu machen, hatte es einen ganz bestimmten Grund gegeben – und er bedauerte den Vorfall schon zur Genüge. Aber seine Manipulation war eine Art Notwehr gegen den Bann gewesen, den Malwine über ihn verhängt hatte. Letztendlich hatte alles nichts geholfen, denn das Avido Optatum war doch erschaffen worden, wenn auch nicht durch seine Hand. Sich jedoch Mathilda gefügig machen zu wollen, dafür gab es keine Entschuldigung. Dieses Verlangen entsprang lediglich einem unmenschlichen Egoismus.
Unmenschlich. Genau das war der Punkt. Zur Erschaffung des Avido Optatums war nicht nur ein Teil von Mathildas Seele und Daniels Lebensglück notwendig gewesen, sondern auch ein Stück seiner eigenen Menschlichkeit. Darüber hatte er sich bisher keine großen Gedanken gemacht, aber sollte ihn diese reduzierte Menschlichkeit zu solchen Handlungen verleiten, musste er zukünftig sehr auf der Hut vor sich selbst sein. Denn so abstoßend seine Idee, sich seine Frau auf diese Weise gefügig zu machen, auf der einen Seite für ihn war, so einleuchtend und logisch erschien sie ihm auf der anderen.
Noch immer sah Mathilda ihn voller Bedauern und Scham über ihr mangelndes Erinnerungsvermögen an. Er wusste genau, dass sie sich, trotz seiner beruhigenden Worte, nun Vorwürfe machte und sich den Kopf darüber zerbrach, ob sie ihn womöglich gekränkt hatte. Das sollte sie nicht. Doch so war sie nun einmal. Am liebsten hätte er seine Frau in seine Arme gezogen und ihr all diese unnötigen Gedanken weggeküsst. Aber ein Blick in ihre Augen hielt ihn davon ab. Sie waren nicht stumpf oder leer, was nach einem so langen Zauberschlaf nicht überraschend wäre, oh nein, ganz im Gegenteil. Sie waren voller widerstreitender Gefühle, spiegelten ihre Verwirrung ebenso wider wie die Reue ob ihrer Erinnerungslücken, aber auch ein kindliches Staunen über diese ganze Situation und unermessliche Neugierde lagen darin. Und das beschrieb es nicht einmal ansatzweise. Mathildas Augen waren voller Leben, voller Emotionen, voller Seele. Einzig der Funke des Erkennens fehlte.
Raoul konnte die unverbindliche Höflichkeit in ihrem Blick nicht länger ertragen. Er musste dringend hier raus. Möglichst ohne sich etwas anmerken zu lassen. Daher schenkte er ihr ein aufmunterndes Lächeln und erklärte betont leutselig: »Ich werde euch beide dann mal wieder allein lassen. Ihr habt gewiss noch viel zu erzählen.« Er verneigte sich kurz vor Mathilda. »Wir werden in den nächsten Tagen noch genug Gelegenheit haben, uns zu unterhalten. Aber jetzt erst einmal willkommen zurück! Du ahnst nicht, wie sehr ich mich freue, dass du wieder hier bist.«
»Vielen Dank, ... Raoul«, antwortete sie freundlich aber zögerlich – und mit einer wohlerzogenen Reserviertheit, die nicht unbeträchtlich an seiner Selbstbeherrschung zerrte. Er war froh, als er die Tür erreichte, um endlich dieses Zimmer verlassen zu können. Dabei hörte er, wie Daniel sich bei seiner Mutter entschuldigte und ihm folgte. Noch bevor Raoul an der Haustür angelangt war, hatte er ihn eingeholt und sah ihn mit kaltem Blick an.
»Tja, ich würde sagen, dein glorreicher Plan ist gründlich in die Binsen gegangen, Papileinchen. Der ganze Aufwand, und sie erinnert sich nicht einmal an dich. Wie ärgerlich.« Die Stimme des blonden Vampirs triefte vor Hohn, obwohl er nur sehr leise sprach, damit Mathilda ihn nicht hören konnte.
Raoul atmete tief durch. Der Verlust seines Lebensglücks setzte Daniel stark zu und Raoul konnte kaum ertragen, ihn in diesem Zustand zu sehen, für den er sich verantwortlich fühlte. Auch wenn er sich letztendlich für seinen Sohn und gegen Mathilda entschieden hatte, war es zu spät gewesen, und sein schlechtes Gewissen ihm gegenüber brachte ihn fast um. Er konnte Daniels Zorn nur zu gut verstehen. Ach, wenn es nur Zorn wäre! Den war er von seinem eigen Fleisch und Blut gewohnt, den hatte er sich auch gründlich verdient, und damit konnte er umgehen. Was Raoul zu schaffen machte, war die deutlich sichtbare Hoffnungslosigkeit dahinter, die Daniel mit seinem aggressiven Verhalten zu verbergen suchte. Raoul wollte sich gar nicht ausmalen, wie dieser sich mit dem Wissen fühlen musste, nie wieder Glück oder auch nur den leisesten Hauch von Freude empfinden zu können. Und das hatte allein er, Raoul, zu verantworten. Dennoch überstieg eine Auseinandersetzung mit seinem Sohn momentan seine Kräfte. Raoul riss sich zusammen und begegnete dem kalten, blauen Blick mit so viel Arroganz wie möglich.
»Deine Mutter ist gerade erst aufgewacht und durcheinander. Ihr vorübergehender Gedächtnisverlust ist nun wahrhaftig nichts, was mir übermäßig Sorgen bereitet, Söhnchen.«
»Wirklich? Nur zu schade, dass da gleich zwei Denkfehler im letzten Satz sind.«
»Ich habe keine Lust auf deine Spielchen.« Raoul wandte sich zum Gehen.
»Vorübergehend und Gedächtnisverlust.«
Irgendetwas in Daniels Tonfall veranlasste ihn, sich wieder umzudrehen.
»Nein, warte.« Daniel legte einen Finger an die Nase, als müsse er nachdenken. »Es ist nur ein Denkfehler. Ersetze vorübergehend einfach durch selektiv. Oh! Und nichts durch etwas. Dann ist deine Aussage korrekt. Zu dumm, es bleibt doch bei zwei Irrtümern in dem Satz. Mein Fehler.«
»Geht das auch in verständlich?«, knurrte Raoul. Die Kälte in seinem Inneren, die die ganze Zeit vor sich hingeschwelt hatte, loderte erbarmungslos wieder auf.
»Sicher. Hier die Übersetzung für die geistig nicht ganz so Schnellen: Mathilda ist vollkommen klar. Sie erinnert sich an alles. An ihren Namen, wer sie ist, wo sie herkommt, an unser Haus in Frankreich, an mich ... eben an alles. Offenbar nur nicht an dich. Lässt doch tief blicken, od...«
Weiter kam er nicht, da Raoul ihn an der Kehle packte und gegen die gegenüberliegende Wand schleuderte. »Hör auf zu lügen!«, zischte er, immerhin noch so weit Herr seiner Sinne, dass er nicht laut wurde. »Sie erinnert sich an gar nichts!«
Doch Daniel fing sich elegant vor der Wand ab, grinste ihn lediglich an und schlenderte wieder langsam auf ihn zu.
»Jérémie?«, fragte er lauernd.
Zunächst verstand Raoul nicht, bis ihm die Erkenntnis ihre Krallen in den Rücken schlug und ihn zum Taumeln brachte. Mathilda hatte ihn im ersten Moment für Jérémie gehalten. Wenn sie sich aber an Jérémie erinnern konnte, dann bedeutete das gleichzeitig, dass sie sich auch an andere Menschen und Begebenheiten erinnerte. Nur ihn selbst hatte sie vorhin ganz eindeutig nicht wiedererkannt.
Die sengende Kälte in Raouls Inneren flammte zu einem arktischen Tsunami empor, schlug über ihm zusammen und drohte, ihn hinwegzureißen. Was zum Teufel hatte Carsten, dieser diebische Werwolf, getan, dass Mathildas Gedächtnis nicht vollständig war? Hastig riss er die Tür auf und stürmte hinaus in die Nacht. Er brauchte Antworten. Sofort. Und wenn dafür jemand sterben würde.
Ein Stück vom Haus entfernt hielt er abrupt inne. War Mathilda bei Daniel überhaupt sicher? Immerhin war sein Sohn wegen des Opfers, das die Erschaffung des Avido Optatums verlangt hatte, nicht mehr ganz er selbst. Allerdings bezogen sich der Zorn und die Kälte, die Raoul in Daniels Augen gesehen hatte, allein auf ihn. Daniel würde seiner Mutter niemals mit dieser Boshaftigkeit begegnen. Er hasste zwar seinen Vater, aber er liebte seine Mutter. Obwohl er selbst noch ein Kind gewesen war, hatte er sich nach Raouls Tod um sie gekümmert und sie beschützt, wo immer er konnte. Daran würde ihn auch seine jetzige Verfassung nicht hindern. Mit Schaudern erinnerte sich Raoul hingegen an seine eigenen Gedanken eben. Nein, bei Daniel war sie vermutlich sicherer als bei ihm selbst. Immerhin war sein Sohn nicht derjenige, der seine Menschlichkeit eingebüßt hatte.
…