Leseprobe

Die Reise des Karneolvogels 3 - Die Macht des Kodex

Der Zirkus im Stall

 

Es ging Adalbert nicht darum, Theodore Speeter einen Gefallen zu tun. Er sehnte sich danach, Riki wiederzusehen. Auch wenn er nicht wusste, was er sich davon erhoffte, sollte sein Wunsch tatsächlich in Erfüllung gehen.

Würde es nur nach ihm gehen, so würde er sie vermutlich immer noch heiraten wollen. Sofern sie sich nicht zu stark verändert hatte oder zu sehr heruntergekommen war. Er wusste ja nicht, was das Herumziehen mit einem Wanderzirkus so mit sich brachte. Aber er konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass sich seine Riccarda derart zu ihrem Nachteil verändern könnte, dass er sie nicht doch noch lieben würde. Und selbst wenn sie vollkommen heruntergekommen und verwahrlost wäre, dann wäre es womöglich noch nicht zu spät, sie zu erretten. Für einen kurzen Moment gab sich Adalbert einer Fantasie hin, in der er seine abgemagerte, vor Schmutz starrende Riki, die nur noch in ein paar spärliche Lumpen gekleidet war, auf seinen Armen nach Hause trug. Sie klammerte sich dabei dankbar mit ihrer letzten Kraft an ihn – halt, sie hatte überhaupt nicht mehr genug Kraft, sich an ihn zu klammern. Nein, sie hing zu Tode ermattet in seinen Armen und sah ihm voller Dankbarkeit in die Augen, dass er sie endlich aus den Klauen des Zirkus befreit hatte. Er würde sie hegen und pflegen bis sie wieder gesund war und ihre Stütze sein, die ihr half, ihr Martyrium bei den Gauklern zu vergessen. Und wenn sie dann aufgrund seiner aufopferungsvollen Pflege wieder vollkommen bei Kräften war, dann würde er sie vor den Altar führen, wo sie erfüllt von einem überschäumenden Dankgefühl und voller Hingabe seine glückliche Braut werden würde.

Adalbert seufzte und lächelte beseelt vor sich hin. Und in der darauffolgenden Hochzeitsnacht würde sie endlich ganz die Seine werden. Dann würde er sie in die Geheimnisse der ...

Einen Moment. Adalbert riss bestürzt die Augen auf, als ein unangenehmer Gedanke sein Fantasiegebilde durchkreuzte. Was, wenn sie in der Zwischenzeit ihre Jungfräulichkeit verloren hatte? Wenn sie sich einem dieser schmutzigen Gaukler hingegeben hatte? Nein, das konnte nicht sein. So etwas würde sie niemals freiwillig tun! Nicht seine Riki. Doch wenn es nicht aus freien Stücken geschehen war? Wenn man sie geschändet hatte? Ihr ihre Unschuld gewaltsam entrissen? Die Vorstellung ließ ihn entsetzt nach Luft schnappen und trieb ihm überdies die Tränen in die Augen.

Einerlei! Er würde sie sogar trotz dieses Makels ehelichen!

 

Und von dem schuldigen Gaukler würde er, Adalbert Minder höchstpersönlich, Genugtuung für das fordern, was er Riccarda angetan hatte! Mann gegen Mann würde er ihm gegenübertreten und ihn lehren, was es bedeutete, Staub zu schlucken! Dieser Wicht würde seine ungewaschenen Finger nie wieder an eine ehrbare Bürgerstochter legen!

 

Er musste Riki unbedingt aus den Fängen dieses Gesindels befreien. Aber wie?

Dann fiel ihm wieder ein, dass sein Vater einer Hochzeit mit Riccarda Speeter unter gar keinen Umständen zustimmen würde. Er hatte ihm damals eindeutig klargemacht, was er von der charakterlichen Festigkeit von Adalberts einstmaliger Verlobten hielt. Dann hatte er dem Herrn auf Knien gedankt, dass seinem Sohn die Schmach erspart geblieben war, ein solch liederliches Subjekt zur Ehefrau zu bekommen. Und abschließend hatte er noch Riccardas wankelmütiges Naturell verflucht, dass ihn, Adalbert, um ein Haar in den Abgrund gerissen hätte.

Adalbert kannte seinen Vater gut genug, um zu wissen, dass dieser seine Meinung unter gar keinen Umständen wieder ändern würde.

Da ging er dahin, der Traum einer gemeinsamen Zukunft mit Riki an seiner Seite.

 

Doch halt. Wieso musste er sich denn unbedingt dem Willen seines Vaters beugen? Gerade jetzt, in diesem Moment, widersetzte er sich doch schon den väterlichen Anweisungen, indem er – bereits zum wiederholten Male – auf dem Weg zu Rikis Onkel war! Und nicht nur das. Adalbert hatte ebenso die Weisung gehabt, nach dem Abschluss der Verhandlungen mit Holden Podgewaters unverzüglich in den heimatlichen Betrieb zurückzukehren. Auch hier hatte er erfolgreich aufbegehrt, indem er seinen Aufenthalt eigenmächtig verlängert hatte. Wohlgemerkt, um Theodore Speeter zu treffen – und Rikis Verbleib nachzuforschen!

Was sprach dagegen, dem Willen seines Vaters nicht noch einmal erneut zu trotzen und Riccarda dennoch zur Frau zu nehmen?

Adalbert fühlte sich sehr kühn, dass er diese Möglichkeit ernsthaft in Erwägung zog. Allerdings ließ er vorsichtshalber außer Acht, dass jemanden gegen den väterlichen Willen zu heiraten, eine andere Größenordnung war als einen Aufenthalt zu verlängern und heimlich jemanden zu besuchen, zu dem man ihm den Kontakt untersagt hatte.

Beflügelt von der eigenen Aufsässigkeit, konnte er es kaum erwarten, Rikis Onkel Bericht zu erstatten.

 

Theodeore Speeter teilte zumindest Adalberts Vermutungen bezüglich des Verhaltens der Stallburschen. Auch wenn er sich noch etwas genauere Ergebnisse erhofft hatte, so war dies letztendlich doch etwas, womit man seiner Meinung nach arbeiten konnte. Sollte der Zirkus 'Fuego Ardente' tatsächlich in der Nähe sein, dann würde Riccarda nicht mehr lange mit diesen Leuten herumziehen!

 

 

 

Wo bin ich?

 

Endlich hatte die endlose Schifffahrt ein Ende gefunden. Aufatmend setzte Peter Trendzew seine Füße wieder auf festen Boden. Es war ein eigentümliches Gefühl, dass der Untergrund nicht mehr schwankte, daher fielen seine ersten Schritte ein wenig unsicher aus. Doch seine Bewacher wichen ihm nicht von der Seite, sodass die Befürchtung, womöglich hinzufallen, überflüssig war. Auch wenn nicht die Vermeidung eines Sturzes der Grund war, weswegen sie ihn so zuverlässig flankierten. Er trug sich kurz mit dem Gedanken an Flucht, doch ließ ihn sogleich wieder fallen. Es wäre zwecklos gewesen. Der dritte Mann, der hinter ihm ging, hatte unter seinem Mantel eine Pistole auf ihn gerichtet. Er würde ohnehin nur ein paar Schritte weit kommen. Darauf, dass sein Bewacher die Schusswaffe an solch einem öffentlichen Ort nicht verwenden würde, wollte sich Trendzew lieber nicht verlassen. Und wenn er ehrlich war, dann war er sich sicher, dass der Mann keinerlei Skrupel hatte, sie zu benutzen.

Statt also seine Energie mit fruchtlosen Fluchtgedanken zu verschwenden, versuchte er stattdessen lieber, so viel wie möglich darüber herauszufinden, wo er überhaupt war.

Das Sprachgemisch hier am Hafen war enorm, daher konnte er anhand dessen, was gesprochen wurde, noch nicht mit Sicherheit sagen, in welchem Land er sich befand. Obwohl sich bereits etwas herauskristallisierte. Was für ihn allerdings keinerlei Sinn ergab. Trendzew suchte nach Aufschriften, die seinen Verdacht bestätigten – oder widerlegten.

Sie bestätigten seine Vermutung.

Doch wieso? Er kannte hier niemanden und er hatte in seinem ganzen Leben noch nichts mit diesem Land zu tun gehabt!

Um ein Haar hätte er seine Bewacher gefragt, wo sie ihn hinbrachten, doch er verschluckte die Frage in letzter Sekunde. Er hätte ohnehin keine Antwort bekommen.

Aber wieso um Himmels willen hierher? Was war hier bloß los?! Trendzew war sich zwischenzeitlich sicher, dass es sich um eine Verwechslung handelte. Man hatte sich in Rom eindeutig eines anderen bemächtigen wollen und stattdessen ihn erwischt. Alles andere war schlichtweg unmöglich.

Tja, nun konnte es nicht mehr lange dauern, bis sein Entführer eine böse Überraschung erleben würde. Nämlich die, dass man ihm den falschen Mann brachte. Allerdings machte sich Peter Trendzew auch keine Illusion darüber, was das für ihn selbst bedeutete. Höchstwahrscheinlich würde er nie erfahren, wen man stattdessen hier haben wollte und weswegen diese Person hierher hätte entführt werden sollen.

 

Vermutlich war ihm das aber auch vollkommen einerlei, wenn er in ein paar Stunden mit dem Gesicht nach unten im Hafenbecken treiben würde.